Mark Hollis (Talk Talk): Abschied vom „Syd Barett des New Wave“
Zitat ME 02/2019: „Wenn jemand mit 64 stirbt, sagen die Menschen: das ist zu früh. Mit 64 stirbt man nicht. Mit 64 nimmt man vielleicht ja doch noch mal eine Platte auf. Doch Mark Hollis, der Sänger von Talk Talk, hatte eigentlich schon 1991 mit diesem Käse aufgehört. Da war er Mitte 30 und seine beispiellos mutige Band war Geschichte.“ Sollte also jemals utopischerweise seine Biografie verfilmt werden, dann dürften Radiohead – so finde ich – den idealen Titel geliefert haben: „How To Disappear Completely“. Der Rolling Stone nannte ihn daher liebevoll – für die Insider – den ‚Syd Barrett des New Wave‘. Es ist Anfang der 80’er, die Ära von Duran Duran, Spandau Ballet und ähnlichen Gestalten, und die Musikindustrie schaffte es nicht, Mark Hollis in die verkaufsfördernde Rolle eines charismatischen Mädchenschwarms zu pressen. Er war gegen den Strich gebürstet. Für ihn gab‘s keine Schublade, trotz poetischer Texte und tiefgründiger Lyrics, trotz trendy neu-romantischem Synthiepop und markant brüchig flehentlicher, melancholischer Klagestimme, festgekrallt am Mikrofon und mit runder Sonnenbrille.
Es sollte dauern bis zu der üblichen Flut von BHs und Teddybären auf der Bühne. Die erste Produktion hieß bezeichnenderweise „The Party‘s Over“, und damit war die Linie klar. Die nächsten Veröffentlichungen waren kurz getaktet bis 1986: zum ersten Mal Goldstatus in den UK und die erste und zugleich letzte Welttournee. Dokument des Höhepunkts dieser Schaffensphase wird „The Colour Of Spring“, sowie das erst 1999 erschienene wunderschöne Livealbum „London 1986“. Sogar das Montreux Jazz Festival (!) zeigte sich von dem experimentellen Verständnis der Popband begeistert und lädt Talk Talk 1986 für ein Konzert ein. Um dem Rummel um seine Person und die Band zu entgehen, zieht Hollis 1987 in eine verlassene Kirche in Suffolk um und richtet sich dort ein Studio ein, um in Ruhe am vierten Album arbeiten zu können. Er überschreitet mehrfach die Deadline zur Abgabe und informiert stattdessen das Label davon, dass die neuen Arrangements viel zu komplex seien, um sie einem Publikum jemals live zu präsentieren. EMI ist fassungslos.
Nach 14 Monaten im Studio wird im September 1988 „Spirit Of Eden“ vorgelegt, und eines ist sofort klar: Talk Talk haben kommerziellen Selbstmord begangen. Steven Wilson nennt es „a fuck-you to commerciality“. Die sechs Albumtracks sind in mehrstündigen Improvisationen während der langen Aufnahmesessions zu einem organischen Gesamtkunstwerk erwachsen, das heute noch seines Gleichen sucht. Eigentlich ein Jazz-Album, das mit einzigartiger atmosphärischer Dichte experimentiert und gleichzeitig einen riesigen Freiraum für dynamische Improvisation lässt. Sein allerletztes musikalisches Lebenszeichen ist ein traumhaft schwebendes Soloprojekt („Mark Hollis“) mit impressionistischen Hornbläser-Arrangements, auf dem Cover ein bedröppelt aussehendes Osterlamm in schwarz-weiß. Spätestens ab da wurde er jedoch an ganz anderen Maßstäben gemessen: Miles Davis, Claude Debussy, Max Richter und Erik Satie.
„Talk Talk“
„It‘s My Life“
„Such A Shame“
„I Believe In You“
„Renée“
„Dum Dum Girl“
„Tomorrow Started“
„Life‘s What You Make It“
„Such A Shame“ (Live …weil’s so schön war)
„Living In Another World“
„Wealth“
Mark Hollis „Watershed“
One Comment so far:
Schreibe einen Kommentar
Schlagwörter: Talk Talk
previous - next
Habe auch wieder angefangen, Talk Talk zu hören. Kann mir jetzt einen eigenen Post sparen.